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Rückkehr nach Reims – "Warum akzeptiere ich nicht, was ich bin?"

18.01.2019

Wenn ich an meine Jugendjahre zurückdenke, erscheint mir Reims als die Stadt der Beleidigung. Wie oft hat man mich einen "pédé", eine "Schwuchtel" oder irgendetwas Ähnliches gerufen? Für den so Adressierten handelt es sich stets auch um einen Blick in die Zukunft, um die fürchterliche Ahnung, dass diese Worte und all die Gewalt nie weggehen werden. 

Der Protagonist Didier Eribon kehrt nach dreißig Jahren zurück in seine Heimatstadt nach Reims. Grund dafür ist der Tod seines Vaters. Er besucht seine Mutter, erinnert sich gemeinsam mit ihr an längst vergangene Zeiten zurück und arbeitet seine Familiengeschichte auf. Er hat seine Geburtsstadt mit zwanzig Jahren verlassen, um ihn Paris zu leben und seine sexuelle Identität frei ausleben zu können und seine soziale Identität als Sohn einer Arbeiterfamilie hinter sich zulassen. Sein Vater ist Fabrikarbeiter gewesen und seine Mutter eine Putzfrau. Er wollte mit dem Proletariat, der Arbeiterklasse nichts mehr zu haben und künftig Teil der Bourgeoisie sein. Als erster aus seiner Familie hat er ein Gymnasium besuchen können, hat Abitur gemacht und studieren können. Nach seinem Umzug nach Paris hat er drei Jahrzehnte lang fast kein Kontakt zu seiner Familie gehabt. 

Rückkehr nach Reims heißt der Roman des französischen Autors Didier Eribon, der 2016 auf Deutsch erschienen ist. Der Text sorgte international für Aufsehen und sorgte für reichlich Diskussionsstoff. Es ist ein autobiografisches Werk, das sowohl soziologische Feldstudie als auch emotional-biografische Erzählung ist. Der Autor und Regisseur Thomas Jonigk hat eine eigene Bühnenfassung des Romans erarbeitet und sie am Schauspiel Köln inszeniert. Premiere war am 18. Januar im Depot 2. 

Die Bühnenfassung von Regisseur Thomas Jonigk ist nah an der Romanvorlage und setzt doch eigene Akzente. Seine Inszenierung ist emotional aufgeladen und setzt auch Didier Eribons homosexuelle Selbstfindung und Akzeptanz seiner Identität gleichberechtigt ins Zentrum. Die Figuren sind dem Zuschauer sehr nahe, gerade weil auch die Schauspielerinnen und Schauspieler das fantastisch machen. Sie sind aus Fleisch und Blut mit Ecken und Kanten und man spürt wie gezeichnet die Familie von der Vergangenheit ist und welche unausgesprochenen Dinge in der Luft liegen. Jörg Ratjens Didier Eribon ist ein zerstreuter, hibbeliger und zweifelnder Mann, den seine Vergangenheit und seine Familiengeschichte einholt und der weiterhin mit sich und der Welt ringt. "Das, wovon man losgerissen wurde oder sich losreißen wollte, bleibt ein Bauteil dessen, was man ist." Eine Erkenntnis um die der Protagonist nicht herumkommt. Daneben umtanzen, ringen, diskutieren Justus Maier und Nicolas Lehni als zwei Ideal-Ichs von Didier Eribon den Protagonisten. Einer, der die soziale Herkunft aus einer Arbeiterfamilie hinter sich gelassen hat und Teil der Bourgeoisie geworden ist und einer, der das Schwul-Sein akzeptiert hat und frei und im reinen mit sich und dem, was er ist, lebt. Was für ein kluger Schachzug des Regisseurs! Die beiden schwirren immer mit auf der Bühne herum, mischen sich mal ein und kommen sich auch mal ganz nahe. Der emotional-personale Zugang nimmt die Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz ein und setzt mit den soziologischen und philosophischen Fragen und Anklagen sehr genaue Akzente.

Es ist ein unheimlich atmosphärischer Abend, der mal fasziniert, mal den Gedankenapparat anschmeißt und mal tief berührt. Unbedingt anschauen!

***Noch mehr #Theatertipps findet ihr auf youpod.de/theater.***

von Marvin

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