Wonderland Ave. – Ein bitterböser Abgesang auf unsere Welt
03.04.2019
In den ersten Stunden in der Wonderland Avenue schnüffeln sie, Bulldoggenwelpen gleich, in jeder Ecke, schubbern sich an allem, vor Freude, dem Elend entkommen zu sein. Sie sind voller Elan und wollen den Wettkampf. Endlich wieder im Wettkampf sein, hurra. Agieren, ohne zu denken, ohne Luft zu holen, ohne zu wissen, was sie wollen.
Die Maschinen und Roboter haben die Macht übernommen. Die Menschen sind nur noch bloße Zuschauer, die in völlige Abhängigkeit und Unfreiheit geraten sind. Da stellt sich die Frage, wenn die Maschinen den Menschen doch in allen Bereichen des Lebens überlegen sind, warum sollten sie dann noch deren Befehle annehmen? Und was passiert dann mit diesen fehlerhaften, unlogischen, sentimentalen, kleinen menschlichen Wesen?
Diese Fragen stellt sich auch die deutsch-schweizerische Dramatikerin Sibylle Berg in ihrem Theaterstück Wonderland Ave., in dem sie eine düstere dystopische Zukunftsaussicht zeichnet. Denn die Person unklaren Geschlechts, aus der in der Inszenierung ein Paar wird, wacht in einer vollautomatischen und stets überwachten Einrichtung auf – der Wonderland Avenue. Am Schauspiel Köln wurde Bergs Theaterstück unter der künstlerischen Leitung des jungen Regisseurs Ersan Mondtag uraufgeführt. Damit gab er sein Regiedebüt am Kölner Stadttheater, dem er neben der Übernahme von Die Vernichtung (Kölner Premiere: 22. September 2018) vom Konzert Theater Bern noch seine Inszenierung von Die Räuber (Premiere: 15. März 2019) in dieser Spielzeit folgen ließ. Uraufführung von Wonderland Ave. war am 8. Juni 2018 im Depot 2.
In die Einrichtung in der Wonderland Avenue, die einem Altersheim, Hotel oder Endlager ähnelt, kommen Menschen, die in der Gesellschaft keinen Platz mehr haben, überflüssig geworden sind und den ewigen Wettkampf längst verloren haben. Hier geschieht alles so, wie es die Maschinen haben wollen: Die Menschen werden früh geweckt, bekommen ihr Frühstück in Tablettenformen, werden zu sportlicher Betätigung gedrängt und müssen dann in die Reinigung. Danach beginnt die gemeinsame Ballspielzeit und es kommt zum Duell im internen Wettkampf. Denn auch hier können sie sich dem ewigen miteinander Messen und dem Wettbewerb gegeneinander nicht entziehen. Ein letztes Mal treten sie gegeneinander an, um den Hauptgewinn zu ergattern: Den perfekten Zustand. Und als hätten sie nichts dazu gelernt, sind ihre Vorstellungen eben höchst bequem: ein lebenslanger Amazon-Gutschein, flächendeckend freies WLAN und eine Handyflatrate.
Und genau darin liegt die große Stärke des Textes: Die Dystopie ist so naheliegend. Hier wird nicht irgendwelche neuen technischen Revolutionen erdichtet, sondern mit dem, was wir aus unserer heutigen Welt kennen, gearbeitet. Ersan Mondtag, der für Regie und Bühnenbild gleichermaßen verantwortlich ist, hat die Bühne in ein Museum verwandelt: Parkettboden, hohe farbstarke Wände, viele Bilder, Porträts und Gemälde und zwei übergroße menschliche Figuren. Ganz hinten in den Gängen blickt dem Zuschauer eine Burkaträgerin auf einem Porträt entgegen. Vorne auf der Bühne liegt, mit dem Kopf zu uns gedreht und offenen Augen, ein übernatürliches, nacktes Double von Schauspieler Bruno Cathomas. Etwas weiter hinten steht dazu ein weibliches Pendant auf einem Sockel mit einem Sack über dem Kopf, das sich wie Eva einst, die Hände vor Brust und Hüfte hält. Offenbar das Double von Cathomas Schauspielkollegin Kate Strong, die gemeinsam mit ihm, die "Personen unklaren Geschlechts" verkörpert, die Sibylle Berg in ihrem Theaterstück dem Chor der Roboter gegenüberstellt. Die verschieden großen Gemälde sind teilweise leicht verfremdete Kunststücke der bedeutenden Kunstgeschichte, teilweise aber auch Bilder von den beiden Schauspieler*innen. Der Chor der Roboter besteht in Mondtags Inszenierung aus fünf Darsteller*innen, die ganz individuell und einmalig gezeichnet sind. Dazu haben sie alle eine ganz persönliche Gang- und Bewegungsart und heben sich so genial einzeln voneinander ab. Vom perfekten Zustand im technischen Sinne sind sie aber weit entfernt und selber, so wie die Menschen, Auslaufmodelle: Sie betonen die Sätze und Worte falsch, humpeln, quietschen und stampfen vor sich hin.
Die Bühne und die Kostüme sind eine Wucht. Hier gibt es viel zu entdecken und das menschliche Auge erfreut sich immer wieder neuer Entdeckungen und Enträtselungen. Zu den sieben Schauspieler*innen gesellen sich sieben Statist*innen, die zu Beginn die ankommenden Menschen in der Wonderland Avenue repräsentieren und am Ende als Ausstellungsexponate in Schaukästen dienen. Und wer besonders aufmerksam beobachtet, sieht, wie sich die Skulpturen bewegen und mal die Position wechseln. Tot ist hier niemand, die Einrichtung entpuppt sich nur als Zwischenhalt. Doch was kommt danach? Wohin geht die Reise?
Großer Beifall für die Darstellerinnen und Darsteller. Für sie geht die Reise im Mai erstmal nach Mülheim: Dort ist die Inszenierung nämlich bei den Mülheimer Theatertagen 2019 zu sehen und Sibylle Berg mit ihrem Text für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Ob sie den Hauptgewinn, den perfekten Zustand mit Preis in der Tasche, abräumen wird, bleibt abzuwarten. Gute Gründe für dieses hervorragende Wechselspiel von starker Textvorlage mit bildgewaltiger Inszenierung gibt es allemal.
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