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Die Abweichungen – Bis ins kleinste Detail!

16.05.2019

"Es ist schon alles sehr sehr großartig. Im Frühjahr die Flüchtlinge auf der Wasserrutsche. Und jetzt das. Man arbeitet lange so im Schatten dahin. Und dann plötzlich, wow. Fällt einem einfach alles servierfertig in den Schoß. Wunderschön. Oder? Wie lange das gedauert haben muss."

Im Projektraum einer Kunstgalerie steht eine 29-jährige Kuratorin mit ihrem fünf Jahre jüngeren Assistenten und begutachtet ihre neueste Ausbeute: Neun kleine Miniaturen, die Nachbauten verschiedenster Wohnungen zeigen. Diese Modelle möchte die Kuratorin nun in einer Ausstellung präsentieren. Doch das pikante daran: Die künstlerischen Werke wurden in der Wohnung von Frau Jassem gefunden, einer Putzfrau, die für verschiedene Privatfamilien gearbeitet und sich erst kürzlich das Leben genommen hat. Es stellt sich heraus, dass die Nachbauten Miniaturausgaben jener Wohnungen sind, in der sie bis vor kurzem noch regelmäßig gearbeitet hat. Die Kunstwerke lassen sich anhand der Aufzeichnungen einzelnen Familien zuordnen. Doch die Familien können die Begeisterung seitens der Kuratorin und ihres Assistenten nicht teilen. Die Wut und Ablehnung gegenüber den Nachbauten ihrer Wohnungen stellt jegliches Mitgefühl über den Selbstmord ihrer ehemaligen Angestellten in den Schatten.

In Die Abweichungen geht es um einzelne Details in den sechs Miniatur-Nachbauten der Wohnungen, die sich von der Wirklichkeit unterscheiden, und die damit zusammenhängende Frage, ob diese Abweichungen reine Fehler von Seiten der Künstlerin sind oder ob doch mehr dahinter stecken könnte. Das Theaterstück ist ein Auftragswerk für das Schauspiel Stuttgart und wurde von dem österreichischen Schriftsteller Clemens J. Setz geschrieben. Insgesamt ist es erst sein zweites Theaterstück, das er geschrieben und veröffentlicht hat. Sein Debüt gab er mit Vereinte Nationen, das im Januar 2017 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde. Damit wurde er für den Mülheimer Dramatikerpreis 2017 nominiert. Mit Die Abweichungen erhält er nun seine zweite Nominierung für den Mülheimer Dramatikerpreis. Uraufführung war am 18. November 2018 am Schauspiel Stuttgart. Regie führte Elmar Goerden. Setz' Theaterstück, in jener Uraufführungsfassung des Schauspiel Stuttgart, wurde am 27. und 28. Mai bei den Mülheimer Theatertage NRW im Studio der Stadthalle gezeigt.

Bei der Sichtung seitens der Familien stellt sich heraus, dass die Kunstwerke fehlerhaft sind: Die Wohnungen sind zwar detailgetreu nachgebaut, doch einzelne Details minimal verändert worden. Bei der einen Familie kriecht ein Krokodil durch den Flur, bei einer anderen liegt ein zweites Kind im Kinderzimmer und bei einer dritten steht anstelle des Kühlschranks ein Ticketautomat in der Küche. Das sorgt für große Irritationen bei den Familien und unhaltbare Neugierde auf Seiten der Kuratorin und ihres Assistenten, die jetzt umso mehr für die Ausstellung dieser Exponate brennen. Die Abweichungen lösen dabei handfeste Familienkrisen aus, denn nun ist das zuvor doch so intakt gewesene Leben im Eigenheim bedroht.

Die Regisseurin Elmar Goerden setzt das Stück in einen abstrakten weißen Raum, der würfelähnliche Kanten und eckige Strukturen vorweist. Einzelne aus dem Bühnenbild herausgelöste Würfel fungieren als Podeste für die Miniatur-Wohnungen, die mit kleinen Info-Schildern ausgestellt werden. Zu Beginn ist die Bühne allerdings noch komplett leer. Das Licht wechselt seine Stimmungen und eine sich wiederholende Durchsage eines Mission-Control-Centers ist zu hören. So gibt auch die Regisseurin dem Zuschauer gleich am Anfang ein Rätsel auf, das sich erst im Schlussbild auflösen wird. Nach dem Fund der Leiche und der Wohnungsnachbauten blickt der Zuschauer auf die einzelnen beteiligten Familien, die allesamt in diesem Bühnenkomplex spielen: mal zeitgleich, mal versetzt oder überlappend. Die Figuren, die Clemens J. Setz gezeichnet hat, werden von den neun Darsteller*innen hervorragend verkörpert. Keiner gleicht dem anderen, die Individualität wird ideal hervorgehoben. Sie sind so liebevoll und einmalig beschrieben und konstruiert, dass man zu jeder Figur eine Haltung einnehmen kann. Bis auf die Miniatur-Wohnungen, die fast die ganze Zeit über nach erstmaligen Ausstellen auf der Bühne bleiben, kommen und gehen einzelne Requisiten mit den Protagonisten. So bleibt die Spielfläche für alle gleichermaßen neutral nutzbar. 

Als die Familien von dem Selbstmord ihrer Reinigungskraft erfahren, reagieren diese ganz unterschiedlich: Die eine ist bestürzt, eine andere ist angewidert und völlig kaltherzig. Der soziale Status und der Umgang mit Putzkräften wird hier offenbart, ohne jedoch aufdringlich ins Zentrum der Handlung zu rücken. Ganz beiläufig zeigt sich dadurch die Verachtung und der Rassismus gegenüber einer Reinigungskraft mit Migrationshintergrund. Auch die Reaktionen auf die Abweichungen in den Wohnungsnachbauten sind ganz unterschiedlich: von Neugierde bis zur völligen Ablehnung. Herr Kaindl, Familienvater und Lehrer, stalkt die Kuratorin gar, um die Ausstellung des Exponats zu verhindern und droht mit rechtlichen Schritten. Da stellt sich die Frage, woher seine strikte Ablehnung kommt. Hat er etwas zu verheimlichen, dass sich in der Abweichung im Kunstwerk offenbart? Und was sind das für seltsame Geräusche, die von einzelnen Protagonisten gehört werden können und von anderen wiederum nicht? Rätsel über Rätsel, die über die Abweichungen gesponnen werden und den Zuschauer auf eine Detektiv-Tour mitnehmen. Die große Auflösung gibt es zwar am Ende nicht, aber darin liegt auch der Reiz des Stücks. Der Zuschauer blickt wie durch ein Schlüsselloch hinter die geschlossenen Wohnungstüren der Familien und sieht zu, wie die Abweichungen in den Kunstwerken für handfeste Krisen sorgen und Beziehungen zu zerbrechen drohen. Versteckte Probleme kommen so an die Oberfläche. Einzig für die beiden Kinder der Familie Kaindl und Oesterle, ein Junge und ein Mädchen um die 16 Jahre alt, scheint das ganze ein gutes Ende zu nehmen. Zwar sind auch sie von den Familienkrisen nicht ganz frei, aber diese schweißen sie umso mehr zusammen und bieten Raum für knisternde Zweisamkeit. Es kommt zu einer berührenden Kuss-Szene, die Hoffnung auf ein kleines Happy End macht. Dann wird es abgespaced: Die beiden knipsen ihre Fantasie an, imaginieren aus einem Schrank eine Rakete und heben ab zum Mond. Sie landen in der Zukunft, in der sich Familienvater Kaindl in einer Pflegeanstalt befindet und sich krampfhaft an die Miniatur-Wohnung, die er zuvor noch so verabscheut hat, klammert. Eine düstere Zukunftsvision, die der Abweichung große Bedeutung verleiht. Ein letztes Mal erhebt sich die musikalische Klangkulisse ehe sie in einem schwarzen Nichts verstummt. Großer Applaus für Setz' Stück und ein stark aufspielendes Schauspielensemble.

von Marvin

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