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Die Lücke – Ein Stück Keupstraße

12.07.2019

89 Vorstellungen in fünf Jahren – DIE LÜCKE von Regisseur Nuran David Calis zog sich wie ein roter Faden durch die Amtszeit des Kölner Schauspielintendanten Stefan Bachmann. Nun ist (erstmal) Schluss – der Theaterabend feierte zum Spielzeitende am 12. Juli 2019 Dernière im Depot 2. Wie der Regisseur nach der Vorstellung aber bereits verraten hat, wird der Abend in nächster Zeit wieder auf dem Spielplan des Schauspiel Köln stehen. Vor der Wiederaufnahme werde der Abend aber ge-updatet und um die neuesten Entwicklungen im Fall des NSU-Nagelbombenanschlags in der Keupstraße aus dem Jahr 2004 erweitert, so Calis.

Es ist der 9. Juni 2004. In der Keupstraße in Köln-Mülheim, dem Zentrum der türkischen Community, detoniert eine ferngezündete Nagelbombe und verletzt zahlreiche Menschen, viele davon schwer. Die Täter bleiben Jahre lang unentdeckt, ehe ein Bekennervideo im Jahr 2011 den Anschlag dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zuordnen lässt. In den Ermittlungen wurden zuvor vor allem Anwohner und Opfer verdächtigt, was für einen tiefen Vertrauensbruch zwischen der türkischen Community und den deutschen Behörden und der Mehrheitsgesellschaft verursacht. Ein Bruch, der bis heute nicht ganz verheilt ist. Am 9. Juni 2011 jährte sich der folgenreiche Anschlag zum zehnten Mal. Das hat das nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernte Schauspiel Köln und Regisseur Nuran David Calis zum Anlass genommen, um sich einmal genauer anzuschauen, was von dieser Gräueltat geblieben ist. Ein Jahr lang hat der Regisseur mit seinem Team recherchiert und jene Lücke unter die Lupe genommen. Herausgekommen ist ein sehr besonderer Theaterabend, bei dem drei Schauspieler und drei Anwohner und Geschäftsleute aus der Keupstraße gemeinsam auf der Bühne stehen.

Im ersten Teil des Abends führen Anwohner, Geschäftsleute oder andere Menschen, die einen besonderen Bezug zur Keupstraße haben, aus ihrer ganz persönlichen Perspektive die Zuschauer in Kleingruppen über die Keupstraße. Die Führung beginnt und endet direkt an der Spielstätte Depot des Schauspiel Köln, die nur unweit der Keupstraße entfernt ist, und geht rund 45 Minute. Dabei trifft das Publikum auch auf andere Anwohner und Geschäftsleute, die einen Einblick in ihre Perspektive geben. Das Besondere dabei ist vor allem die familiäre Atmosphäre. 

Danach geht es für alle Zuschauer in den Theatersaal zum zweiten Teil des Abends, der mit 1 Stunde 45 Minuten den Schwerpunkt des Stücks einnimmt. Das Publikum blickt im Depot 2 auf eine vornehmlich weiße Bühne: Zwei weiße, offene, quadratische Räume, die sich gegenüberstehen. Dazwischen eine Lücke, in der eine Straßenlaterne steht. Die Trennung im Bühnenbild setzt sich dann auch in der Anordnung des Ensembles fort: Die drei Schauspieler in Anzügen im linken Raum, die drei Anwohner und Geschäftsleute der Keupstraße in Alltagskleidung im rechten Raum. Der Riss, die Lücke ist im Saal zu spüren. Erst reden sie gar nicht, dann nicht mit- sondern übereinander. Nach und nach hören sich die beiden Parteien aber zu und so nähern sie sich einander an und kommen miteinander ins Gespräch. Dabei wird offen mit Klischees und Vorurteilen hantiert. Das funktioniert vor allem deshalb, weil beide Seiten voreingenommen sind und man sich, mit welcher Seite auch immer die größere Identifikation vorliegt, selbst dabei erwischt, dass man sich mit den Aussagen identifiziert, obwohl man eigentlich kaum etwas über die jeweils andere Kultur weiß. Wenn man die Lücke also schließen will, sollte man damit anfangen, die Vorurteile dem Anderen gegenüber abzulegen und offensiv das Gespräch zu suchen. Es kommt zu Konflikten, die durch die Zusammensetzung des Ensembles überhaupt nicht gespielt, sondern sehr echt wirken. Die Inszenierung ist durch die Projektion von Videoclips, in denen u.a. Bilder des Anschlags und Interviews gezeigt werden, in 18 Kapitel geteilt. 18 Kapitel für 18 Opfer des NSU-Anschlags.

Die beiden Räume werden im Laufe des Abends in immer neue Positionen gebracht. Dadurch entsteht laufend ein neues Verhältnis zueinander, dessen Anordnung stets neu verhandelt wird. Aus einer starren Gesprächssituation wird so mehr und mehr ein belebtes Bühnenspiel, das durch kleinere Handlungen und Aktionen aufgelockert wird. Dabei stellt das Ensemble u.a. auch die Anschlagssituation nach und beschäftigt sich mit den Presseberichten zum Anschlag. Vor allem in den Diskussionen schwingt so viel echte Emotionalität und Verletzlichkeit mit, dass man als Zuschauer wahnsinnig berührt wird. Man Man merkt, dass das nicht gespielt ist, sondern aus dem tiefsten Inneren dieser Menschen da auf der Bühne kommt. Die große Ungerechtigkeit, die angeklagt wird, macht einen sprach-, fassungs- und zutiefst ratlos. Das ganze löst etwas in einem aus, das in Tatendrang mündet, sich gegen diese Ungerechtigkeit wehren und auflehnen zu müssen. 

Und dann ist alles wieder wie am Anfang. Man schaut sich schweigend an, beäugt sich kritisch. Es fällt kein Wort. Hat sich nichts verändert in den vergangen knapp zwei Stunden? Doch! Denn wenn man genau hinsieht, hat sich etwas in dem Blick zueinander verändert. Man schaut sich anders an als noch am Anfang. Auch wenn das kein riesen Schritt ist, hat es doch gezeigt, wo der Schlüssel zum Schließen der Lücke liegt: Im Gespräch. Nach dem Schlussbild bleibt es lange still. Der Abend hat seine Spuren beim Publikum hinterlassen. Dann folgt großer Applaus und stehende Ovationen für das Ensemble und das Team rund um Regisseur Nuran David Calis, der mit DIE LÜCKE einen in vielerlei Hinsicht herausragenden Theaterabend geschaffen hat, der weitaus mehr als Samstagabend-Unterhaltung ist - er ist ein Statement. 

***Noch mehr #Theatertipps findet ihr auf youpod.de/theater.***

von Marvin

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