Play* Europeras 1&2 – Eine Oper als großes Mosaik-Kunstwerk
07.04.2019
200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt. Nun schicke ich sie alle zurück.
Das sagte John Cage, einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, über das Konzept seiner Opern Europeras 1 & 2. In diesen rekonstruierte er aus 200 Opern in 64 Bildern mittels Zufallsoperationen die Sprache der klassischen Opern des 18. und 19. Jahrhunderts. Das insgesamt fünfteilige Musiktheater Europeras ist ein Auftragswerk der Oper Frankfurt, für die zunächst nur die Teile 1 und 2 entstanden. Uraufführung war im Dezember 1987. Sein Werk wird nur selten aufgeführt. In Nordrhein-Westfalen war es zuletzt 2012 bei der Eröffnung der Ruhrtriennale zu erleben. Nun hat die Oper Wuppertal das Musiktheaterstück auf den Spielplan genommen. Regie führte das auch in Düsseldorf bestens bekannte Künstlerkollektiv "Rimini Protokoll" (Am Düsseldorfer Schauspielhaus zuletzt: Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2), Uraufführung am 12. Mai 2017). Zum ersten Mal wagt sich das Kollektiv damit an eine Operninszenierung ran. Premiere war am 2. Februar, Dernière am 6. April.
Europeras 1 & 2 gilt als Cages größte und radikalste Musiktheaterarbeit. Im Zentrum steht das Prinzip Zufall in einem experimentellen Stil. Denn nicht nur die Musik ist an diesem Abend dem Zufall überlassen, sondern auch das Bühnenbild, die Requisiten, das Licht, die Positionen der Sänger*innen und die Opernarien. Die Spieldauern sind exakt 90 (Europera 1) bzw. 45 Minuten (Europera 2), die mittels einer Digitaluhr angezeigt werden, damit alle Beteiligten ihre Einsätze exakt einhalten können. John Cage hat freigestellt, diese jeden Abend neu auszuwürfeln. Das Produktionsteam in Wuppertal hat sich dafür entschieden, die Zufallsoperation nur einmal durchzuführen. Dabei wurde auch dem Zufall überlassen, ob der erste oder der zweite Teil zuerst gespielt wird. Das Publikum bekommt daher zu Beginn den zweiten, kürzeren Teil zusehen. Hier blickt das Publikum auf eine Bühnenwand voller unterschiedlich großer Monitore, auf denen aufgenommene und Live-eingespielte Videoprojektionen gezeigt werden. Man sieht verschiedene Menschen und Orte, Gemälde, Landkarten und Fotografien. Dazu werden immer wieder Regieanweisungen der von Cage aufgenommenen Opern auf die Monitore projiziert, die eine absurde, nicht miteinander verknüpfbare Handlung zeigen. Die musikalische Untermalung erfolgt ebenfalls live oder durch eine Aufnahme. Das Publikum bekommt Sequenzen und Themen der vielfältigen Opern zu hören. Manche klar zu erkennen, manche, die in der gesamten Klangwelt untergehen und unentdeckt bleiben. Spaß scheint hier nur der zu haben, der das Wissen und die Erkenntnisfähigkeit besitzt. Denn dieses große mosaik-hafte Gesamtkunstwerk lässt weder Geist, noch Ohr, noch Auge, noch Kopf ruhen. Überall prasseln Eindrücke auf einen ein. Das ermüdet schnell und ist ungeheuer anstrengend. Dazu noch die digitale Uhr, die in diesen Momenten natürlich nur so vor sich hin schleicht.
Im zweiten (bzw. ersten Europeras-) Teil des Abends verschwindet dann die Monitorinstallation und die Bühnenfläche mit den insgesamt 64 Feldern wird frei. Hier treten nun die zehn bzw. neun Sänger*innen in zufällig bestimmter Kleidung auf und singen eine zufällig bestimmte Arie, in einem zufällig bestimmten Feld, eine zufällig bestimmte Zeit lang. Zufall, Zufall, Zufall ist die Devise. Bühnenbilder, Aufsteller, Requisiten kommen auf und gehen wieder von der Bühne. Lichtstimmungen werden ein- und wieder ausgefahren. Die Vorhänge heben und senken sich. Statisten treten auf und wieder ab. Dazu Musik und eine Aufgabe an das Publikum, das Aufgaben-Karten mit einer bestimmten Zeitangabe bekommen hat, und diesen, teils überraschenderweise, brav Folge leistet. Ein Gesamtbild entsteht, das sich in 360 Grad um den Zuschauer herum zusammensetzt. Um dieses Zufallsspiel herum werden Schilder von den Darsteller*innen hochgehalten, mit Anweisungen, Fragen und Aussagen. Dabei wird auch auf das Europa von heute und der Zustand der EU Bezug genommen. Das wirkt ein bisschen sehr aufgesetzt und gewollt. Nichtsdestotrotz ist der zweite Teil deutlich belebter und gibt dem Abend im Vergleich zum ersten Teil nochmal eine ganz neue, andere Note.
Grundsätzlich ist es schon sehr beachtlich und höchst anzuerkennen, dass sich die Oper Wuppertal mit "Rimini Protokoll" an dieses komplexe Musiktheaterstück gewagt hat. Aber es ist wirklich ein unfassbar anstrengender Abend für alle Beteiligten und kann gerade beim Zuschauer für Lähmungserscheinungen sorgen. Gerade wenn man sich nicht super gut in der Opernlandschaft auskennt, kann dieses Musiktheaterstück einen unter sich begraben. Aber die Einzigartigkeit und Besonderheit eines solch komplexen wie puzzle-artig zusammengesetzten Abends ist das Erlebnis trotzdem wert.
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