Judas – Psychogramm eines Verräters
05.02.2020
Die Bühne hat sich in Dunkelheit gehüllt, das Licht im Zuschauerraum im Rang erlischt. Nur mit scharfen Augen und ganz viel Mühe lässt sich die Silhouette einer Gestalt mehrere Meter über dem Bühnenboden skizzieren. Dann entzündet sie eine Kerze und die Szenerie entfaltet sich: Vor dem geschlossenen eisernen Vorhang sitzt ein Mann, nackt, mit vernarbtem Rücken und dem Gesicht dem Publikum abgewendet, auf einer winzigen Empore, die in mehreren Metern Höhe liegt. Rechts davon ein rechteckiger Spiegel, vor dem die entzündete Kerze brennt. Der Weg bis unter den Bühnenboden führt über eine lange Leiter mit hölzernen Sprossen. Ein eindringliches, beinahe Horrorfilm-artiges Bild, das durch eine dezente musikalische Untermalung mittels eines dröhnenden Schlages verstärkt wird. Judas – irgendwo zwischen Himmel und Hölle.
Bereits im Dezember 2012 feierte "Judas", geschrieben von der niederländischen Autorin und Dramatikerin Lot Vekemans, Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Regie führte Johan Simons, der zum damaligen Zeitpunkt das Haus auch als Intendant führte. Nun hat Simons in seiner zweiten Spielzeit als Intendant am Schauspielhaus Bochum jene Inszenierung mitgebracht und auf den Spielplan gesetzt. Mit dieser Produktion folgt auch Schauspieler Steven Scharf in das Ruhrgebiet. Scharf wurde für die Rolle des Judas 2013 zum "Schauspieler des Jahres" gewählt. Ab April wird er dann auch in Simons neuer Regie-Arbeit, "King Lear" von William Shakespeare, auf der Bühne stehen. Bochum-Premiere von "Judas" war am 7. Mai 2019 im Schauspielhaus.
Mit "Judas" setzt sich Lot Vekemans mit einem Mann zusammen, dessen Name für Verrat steht, und dem sie in ihrem Stück erstmals selbst das Wort erteilt - die Chance, mit all den Spekulationen um seinen Verrat aufzuräumen und seine Perspektive jener Geschichte zu erzählen, die Christen auf der ganzen Welt kennen. Und Judas nutzt diese Chance und inszeniert das Zwiegespräch zwischen ihm und dem Publikum genau. Doch was Wahrheit und was Lüge ist, weiß nur er selbst. Die Frage nach der Schuld, die ihn - auch nach 2000 Jahren noch - sichtlich belastet, gibt er dem Fragenden zurück. Ein Psychospielchen oder das Psychogramm eines Verräters?
Steven Scharf spielt diesen Judas als einen Borderliner. Einen unruhigen Typen, zerfressen von Schuld, der nicht nur körperliche Narben an sich trägt, sondern auch psychische Schrammen davongetragen hat. Einer, der einem mal Angst macht und über den man auch mal spöttisch schmunzeln muss. Die Inszenierung konzentriert sich ganz auf Text und Darsteller, verzichtet auf opulente Bühnenspielereien und besticht durch ein packendes Gesamtbild, das durch den rund einstündigen Monolog-Abend wie im Fluge trägt. Scharf schafft es, die große räumliche Distanz von Publikum zu ihm aufzulösen und den Zuschauer zu fesseln. Ohne Probleme füllt er mit seiner kräftigen Stimme das große Schauspielhaus und erspielt sich die bedingungslose Aufmerksamkeit seiner Zuhörerschaft. Dass seine Figur die Blicke anderer Menschen nicht erträgt und er deshalb stets mit dem Rücken zu ihnen sitzt, bringt er mit jeder Bewegung eindringlich rüber.
Zwar rät Judas schon zu Beginn des Stückes davon ab, seine Worte durchdringen und ihn verstehen zu wollen. Damit würde man nur scheitern. Und doch beginnt man im Laufe des Abends seine eigenen Vorurteile zu hinterfragen und das - scheinbar so eindeutige - Bild dieses Mannes, das wir alle in unseren Köpfen tragen, zu deformieren. Nicht zu einem neuen, vereinfachten Bild, aber wir verstehen, dass weder die Welt noch diese Figur in schwarz und weiß zu beschreiben ist. Zu unkonkret und widersprüchlich ist der Mann in seinen Worten, sodass am Ende doch die Frage bleibt, ob man als Zuschauer einem manipulativen Täter zum Opfer gefallen sind oder sich die Geschichte des Judaskusses auch anders erzählen lässt. Großer Beifall und stehende Ovationen für Steven Scharf, der mit seiner beeindruckenden Performance und der konzentrierten Inszenierung von Johan Simons noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
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