Medea – Keine Erlösung an der Klagemauer
20.06.2021
Es darf wieder gespielt werden. Live. Vor Publikum. Das vermeldeten auch die Ruhrfestspiele Ende Mai. Dank der neuen Corona-Schutzverordnung des Landes NRW sind seit dem 1. Juni auch beim Festival in Recklinghausen wieder Präsenzveranstaltungen und Live-Vorstellungen unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen möglich. In diesem Zuge kündigte das Festival zudem an, dass zum Abschluss der 75. Jubiläumsausgabe als zusätzlicher Programmpunkt die Produktion "Medea", in der Regie von Michael Thalheimer vom Berliner Ensemble, im Ruhrgebiet zu sehen sein wird. Die Inszenierung wurde 2013 zum Berliner Theatertreffen eingeladen und Constanze Becker erhielt für ihre Darstellung der Titelfigur den Theaterpreis DER FAUST. Ein großer Theaterabend, der seine Wucht auf digitaler Bühne sicher nie so hätte entfalten können, wie er es jetzt im Ruhrfestspielhaus getan hat.
Worum geht's? "Medea" ist eine der bedeutendsten Stücke, das vielfach interpretiert und überschrieben worden ist und häufig auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater zu finden ist. Das Stück ist eine antike Tragödie des griechischen Dichters Euripides. Es basiert auf der Argonautensage des griechischen Mythos, der besagt, dass der Königssohn Jason mit Hilfe der Königstochter Medea das sagenumwobene Goldene Vlies aus dem Besitz des Königs von Kolchis, Medeas Vater, geraubt hat und mit ihr nach Korinth geflohen ist, wo ihnen König Kreon Asyl gewährt hat. Nun ist einige Zeit vergangen, die beiden haben zwei Söhne bekommen und Jason wendet sich von Medea ab und geht eine Liaison mit Glauke, der Tochter von König Kreon, ein. Er verstößt Medea, die daraufhin von Kreon samt ihrer Söhne des Landes verwiesen wird. Doch so einfach setzt Medea nicht die Segel. Sie schmiedet einen verhängnisvollen Racheplan an Jason, der einige Todesopfer fordern wird – darunter auch die beiden gemeinsamen Söhne, die von ihr umgebracht werden.
Oft war die Figur der Medea als blutiges Rachemonster zu sehen, das kaltblütig ihre beiden Söhne ermordete. Eine eifersüchtige, rasende, laute Frau, die inmitten ihres Schmerzes einfach nur noch rot sieht. Anders ist es in der Inszenierung von Michael Thalheimer. Es dauert sogar eine ganze Weile bis die Frau, um die es geht und über die viel gesprochen wird, selbst aus dem Schatten tritt und ihren Schmerz kundtut. Wie an einer Klagemauer steht sie in weißem Kleid mit blutigen Knien auf einem rund drei Meter hohen Vorsprung (Bühne: Olaf Altmann), presst ihre Hände gegen die Rückwand und hält ihr Gesicht im Schatten verdeckt. Doch ihr Wimmern, ihr Zaudern und ihr schmerzvoller Schrei durchdringt alsbald den gesamten Zuschauerraum und lässt das Leid der Figur vibrieren. Es ist ein Spiel der Perspektiven, viele einfachgehaltene Lichteinstellungen, die wechselnd gefahren werden. Die Besetzung auf sieben Figuren heruntergesetzt. Der Chor der Korinther wird gar nur von einer Schauspielerin verkörpert. Im Zentrum steht das Ensemble mitsamt seiner Figuren. Viele dialogische Duett-Szenen, die sich aneinanderreihen und lange auf Distanz zum Publikum bleiben. Viel wird auf Abstand gehalten und auf Entfernung gespielt. Die Psychologie der Figuren kann sich so nach und nach entfalten.
Ab der Hälfte des rund 105-minütigen Abends ändert sich das dann aber. Das riesige Bühnenkonstrukt fährt bis auf den Theaterbogen vor und die Nahbarkeit des Bühnenspiels rückt einem auf die Pelle. Seinen Höhepunkt findet das ganze, als bebende Punkrockmusik den Saal erfasst und Piktogramme in einem Quadrat auf die Bühne projiziert werden. Darin werden die Stufen einer Beziehung durchdekliniert: Vom pochenden Herzen und dem ersten Verliebtsein bis hin zum Windelnwechseln der Kinder. Medea, die gefangen in diesen Konventionen und falschen Versprechungen einer patriarchalen Erzählweise ist, bricht schließlich aus. Sie bricht damit, so wie Jason mit ihr gebrochen hat und rüstet sich zum finalen Kampf und dem Kindermord. Und dann zeigt die Schauspielerin Constanze Becker stärker als je zuvor an diesem Abend, warum ihr zurecht der Theaterpreis für ihre darstellerische Leistung verliehen wurde: Sie braucht keine Worte, kein Ringen und kein Kämpfen. Es sind die Momente des Schweigens, in denen sich die Abgründe ihrer Figur offenbaren. Dafür muss man sie nur beobachten und sie gewährt uns Einblick in die Tiefe, den Abgrund, vor dem sie selbst steht. Gibt sie uns nachvollziehbar zu verstehen, warum sie ihre eigenen Kinder tötet? Nein, gewiss nicht. Aber wir können erahnen, wie groß ihr Schmerz sein muss, dass sie zu diesem Schritt bereit ist. Unaufhaltbar tritt sie ihr Schicksal an. Und damit ist sie nicht allein. Viele werden ihr folgen – raus aus dem patriarchalen Unterdrückungssystem.
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