Düsseldorfer Jugendportal

Sprich über deine Stadt!

415 640 1000 1000 1000

Peer Gynt – Das Warten hat ein Ende

30.12.2021

Zwanzig Jahre lang musste Penelope, die einst spartanische Prinzessin war, Zuhause bleiben, ihrem Mann die Treue halten, den Haushalt hüten und den gemeinsamen Sohn erziehen, ehe ihr Gatte Odysseus, der König von Ithaka, endlich von seiner langen Reise samt zahlreich erlebter Abenteuer zu ihr zurückkehrte. Auf der einen Seite die männliche Heldenikone, auf der anderen Seite die völlig eindimensional erzählte Frauenfigur in Homers "Ilias". Ein ähnliches Schicksal ereilt viele weibliche Figuren in Literatur und Dramatik des Westens. Auch so Solveig in Henrik Ibsens "Peer Gynt": Jahrzehntelang wartet sie auf ihren Peer, einen armen Bauernjungen, den es in die weite Welt hinauszog, um ihn am Ende vor seinem drohenden Schicksal zu bewahren. Doch dem Warten auf den Mann setzt der Regisseur Dušan David Pařízek in seiner Neuinszenierung des Ibsen-Klassikers nun ein Ende und lässt dabei auch gleich mit dem gesamten westlichen Dramenkanon und der 500 Jahre alten europäischen Kolonialgeschichte abrechnen. Digital-Premiere feierte der Abend am 24. April im Stream des Schauspielhaus Bochum. Seit dem 13. Juni ist der Abend nun auch live zu erleben.

"Peer Gynt" ist ein von Henrik Ibsen, ein norwegischer Dramatiker und Lyriker, geschriebenes dramatisches Gedicht, welches häufig auf deutschen Theaterbühnen gespielt wird. Ursprünglich war der Text allerdings nicht für die Bühne geschrieben. Im Zentrum der Handlung steht der junge Bauernsohn Peer Gynt, der zusammen mit seiner Mutter Aase in ärmlichen Verhältnissen lebt. Mit Lügengeschichten versucht er, der Realität zu entfliehen und seinen Vater Jon Gynt zu verdrängen, der mit Trunk- und Prahlsucht Hof und Habe ruiniert hat. Peer flieht schließlich aus seinem bisherigen sozialen Leben und tritt eine weltumspannende Reise an, die ihn u. a. in die Welt der Trolle, nach Marokko, in die Wüste, ins Irrenhaus zu Kairo und schließlich nach Jahrzehnten wieder nachhause führt. Seine Reise hinaus in die Welt ist zugleich eine Reise auf der Suche nach sich selbst, seinem inneren Kern. 

Regisseur und Bühnenbildner Dušan David Pařízek stellt in seiner Inszenierung eine riesige hölzerne Quadratfläche auf die Bühne, die man drehen und zu einer gewaltigen Schräge hochfahren lassen kann. Hier spielt und springt die quirlige Schauspielerin Anna Drexler als Peer umher und droht ein ums andere Mal beinahe hinabzurutschen und den Halt zu verlieren: Lügen als gefährlicher Drahtseilakt. Die cross-gender-Besetzung mit einem weiblichen Peer /und einer männlichen Mutter Aase) ist nicht nur ein starker und längst überfälliger Besetzungscoup (was man heutzutage leider immer noch erwähnen muss), sondern eröffnet auch eine zweite Ebene: eine Frau, die sich dem männlich geprägten Blick auf die kapitalistische Welt nähert. Peers Reise durch die Welt wird von ordentlich Live-Musik begleitet, die wie eine Art Kneipenkonzert einer Band wirkt. Jedes Ensemblemitglied kann mit seiner musikalischen Begabung einen Teil zum Gesamtarrangement beitragen. So geht es im hohen Tempo durch die verschiedenen Stationen des Textes. 

Ein besonderer Moment des Abends ist der Monolog von Mercy Dorcas Otieno, die in dieser Szene die Wüstenhäuptlingstochter Anitra spielt und Peer für einen Propheten hält, der dem Originaltext beigefügt wurde. Hier rechnet sie mit der 500 Jahre alten europäischen Kolonialgeschichte aus Sicht Afrikas ab, das auf einem Interview mit der ghanaischen Autorin Ama Ata Aidoo basiert. Eine emotionale und zeitgemäße Abrechnung mit dem männlich geprägten Prinzip einer marktliberalen Welt und der kapitalistischen Ausbeutung des afrikanischen Kontinents. Höhepunkt ist aber der Abgesang auf den westlichen Dramenkanon von Schauspielerin Anne Rietmeijer, die an diesem Abend Solveig spielt. Zunächst stimmt sie "Solveigs Lied" von Edvard Grieg an und wettert dann gegen die Frauenfiguren des westlichen Dramenkanons. Sie sei es leid, ewig warten zu müssen, während Peer durch die Welt reist. Schluss mit eindimensional erzählten Frauenfiguren, Schluss mit der ausschließlichen Besetzung von Männern in männlichen Hauptrollen. 

Regisseur Dušan David Pařízek bietet mit seinem "Peer Gynt" eine zeitgemäße, wichtige und enorm starke Gegenreaktion zur Cancel Culture Kultur an: Nicht einfach solche Stücke aus dem Kanon streichen, sondern ihnen etwas entgegenstellen, sie kommentieren und einen Diskussionsraum schaffen. Bitte mehr davon!

Nächste Vorstellung: Freitag, 7. Januar um 19:30 Uhr

von Marvin

Kommentar verfassen

Bitte fülle alle Felder aus die mit * markiert sind.