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Zwischen Freiheit und Diskriminierung: Wie steht es um queere Menschen in Europa?

31.05.2024

Mit unserer Stimme bei der Europawahl haben wir viel in der Hand. Darunter auch wie die Situation von queeren Menschen in der EU in Zukunft aussehen wird. Einen Überblick über die aktuelle Lage in verschiedensten europäischen Ländern und über die Lebensrealität von queeren Geflüchteten in der EU bietet das dritte Europa-Café, das passend zu der Thematik im queeren Jugendtreff PULS stattfindet.

Ein Abend gefüllt mit drei spannenden Gesprächsrunden und abgerundet durch zwei bewegende Texte von Leo Milo Matteo (Instagram: @andersgewollt).

Ein Blick von Deutschland in den Osten

Zur ersten Diskussion begrüßt Moderatorin Katharina die Expert*innen Pia Sophie vom PULS und Jasmin von International LGBTQIA+ Düsseldorf auf der Bühne.

Pia arbeitet seit 2022 im Jugendtreff PULS und hat schon viel Erfahrung in der queeren Jugendarbeit machen können. Ein immer wiederkehrendes Problem: Finanzielle Kürzungen, die leider auch im Jahr 2024 bei uns in Deutschland keine Seltenheit sind. Ehrenamtliches Engagement ist daher unverzichtbar. Rechtlich haben wir in den vergangenen Jahren mit der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe 2017 und nun auch mit dem Selbstbestimmungsgesetz einige Fortschritte machen können. Gesetze wie diese sind aber innerhalb Europas alles andere als universell. Pia und Jasmin werfen gemeinsam mit dem Publikum einen Blick auf die Lage in Osteuropa. Die Situation von queeren Menschen unterscheidet sich dort je nach Land recht stark. Zurückzuführen sei die Queerfeindlichkeit in Ländern wie Polen neben religiösen Motiven auch auf das gängige Narrativ, dass Queerness eine importierte Erfindung des Westens sei.

Es gibt aber auch Lichtblicke in der Region, wie Jasmin uns verrät.

Polen beispielsweise schlägt aktuell einen etwas progressiveren Weg ein, nachdem es vorher unter der rechtskonservativen Regierung zur Einführung sogenannter „LGBT+ freien Zonen“ kam.

Gute Nachrichten für die LGBTQ+ Community kommen außerdem aus Estland. Dort dürfen gleichgeschlechtliche Paare seit Anfang 2024 heiraten.

Für die Zukunft wünscht Pia sich, dass Menschen unabhängig von Geschlecht und Sexualität frei leben können. Die EU solle Pia zufolge das Demonstrationsrecht stärken und ein Anti-Diskriminierungsgesetzt verabschieden, welches seinem Anspruch gerecht wird und von allen EU-Ländern umgesetzt werden muss.

Jasmin betont wie wichtig es ist, der LGBTQ+ Community mehr Schutz zu bieten, und fordert eine klarere Gleichstellung in Außen- und Innenpolitik.

Fokus Südeuropa mit Giorgio und Juan

Die griechische Antike verknüpfen viele mit einer gesellschaftlichen Offenheit für, zumindest männliche, Homosexualität. Die jährliche EuroPride findet dieses Jahr zum ersten Mal in Griechenland statt und bringt queere Kämpfe auf die Straßen von Thessaloniki. In Giorgios Kindheit, so berichtet er, sah es in Griechenland allerdings ganz anders aus. Als schwuler Junge hatte er dort viele Probleme, ausgeschlossen zu werden stand an der Tagesordnung. In Albanien machte er beim Fußballspielen mit anderen Kindern zwar bessere Erfahrungen, jedoch sind die Balkanstaaten als Ganzes auch heute noch recht unsichere Orte für queere Menschen.

Viele Länder in der Region bemühen sich um queerfreundlichere Gesetze, große Teile der Bevölkerung seien aber oft nicht so aufgeschlossen, wie es die Verfassung vermuten ließe. Giorgio wirft ein, dass einige Länder durchaus „Pinkwashing wie Firmen im Juni“ betreiben, mit dem Wunsch, dadurch schneller in die EU aufgenommen zu werden.

Mit Blick auf die Zukunft plädiert er für mehr internationale Solidarität, insbesondere auch innerhalb der LGBTQ+ Community:

„Wir haben viele Privilegien in unserer Bubble und müssen uns auch für andere Länder und die Menschen dort stark machen. Wir brauchen viel mehr Kampagnen- und Aufklärungsarbeit.”

Außerdem sei es essenziell, dass möglichst viele queere Menschen in der Politik und konkret auch im EU-Parlament vertreten sind. 

Dass die Länder im europäischen Süden in Bezug auf queeres Leben nicht in einen Topf geworfen werden können, verdeutlicht ein Blick auf Spanien. Juan beschreibt sein Heimatland im Großen und Ganzen als sehr progressiv. Im vergangenen Jahr hat Spanien ein Äquivalent zum deutschen Selbstbestimmungsgesetz für trans* Menschen eingeführt, die gleichgeschlechtliche Ehe gibt es dort bereits seit 2005, und damit 12 Jahre länger als in Deutschland. Jedoch bestehen in Bezug auf LGBTQ+ Akzeptanz auch heute noch viele Differenzen innerhalb Spaniens, vor allem zwischen Stadt und Land. Zudem hat die Regierung das Vorhaben, „divers“ als offiziellen Geschlechtseintrag einzuführen, letztendlich nicht umgesetzt. Das läge unter anderem an rechten Parteien, vergleichbar mit der AfD in Deutschland, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, queeren Menschen hart erkämpfte Rechte zu nehmen und positive Entwicklungen zu stoppen.

Die Verbesserung der Lebensumstände für Menschen aus der LGBTQ+ Community bleibt somit auch in Südeuropa ein fortwährender Kampf.

Queere Geflüchtete in der EU und in Deutschland

Ahmed kommt selbst ursprünglich aus Ägypten und hilft heute Geflüchteten aus der LGBTQ+ Community Asyl in Deutschland zu bekommen. Er weist darauf hin, dass gesamtgesellschaftlich sowie vor allem auch medial viel zu selten über den Umgang mit queeren Geflüchteten in der EU und speziell auch bei uns in Deutschland gesprochen wird, und gewährt uns einen Einblick in eine Reihe von Missständen im System.

Problem Nummer 1: Queerness beweisen

Wenn Menschen aus der LGBTQ+ Community aufgrund von Queerfeindlichkeit in ihrem Heimatland in der EU Schutz suchen, müssen sie ihre sexuelle Orientierung und/oder Geschlechtszugehörigkeit unter Beweis stellen. Aber wie soll ein (eventuell traumatisierter) queerer Mensch, der höchstwahrscheinlich nie die Möglichkeit hatte, in der eigenen Heimat frei zu leben, so etwas tun?

Oft führt kein Weg daran vorbei, sich einer Welle intimer, grenzüberschreitender Fragen zur eigenen Identität zu stellen. Aufgrund der Sprachbarriere muss dabei in den meisten Fällen eine fremde Person dolmetschen. Das verkompliziert die Situation noch einmal deutlich, und Geflüchtete können nur hoffen, dass die eigene Perspektive überhaupt verstanden und richtig übersetzt wird. In einem solchen „Gespräch“ wird von den Asylsuchenden außerdem erwartet, konsequent konkrete Antworten zu geben sowie immer klar und deutlich zu sprechen, um sich zu beweisen. Das sei in Anbetracht der gesamten Umstände quasi unmöglich, so Ahmed. Die EU müsse schnellstmöglich eingreifen und für eine humanere, queerfreundliche Regelung sorgen.

Problem Nummer 2: Unsichere Unterkünfte

Queere Schutzsuchende erfahren in Sammelunterkünften häufig Diskriminierung, nicht nur durch andere Geflüchtete, sondern oft auch durch die Menschen, die dort arbeiten und ihnen eigentlich beistehen sollten. Momentan ist die gemeinsame, sichere Unterbringung von queeren Geflüchteten lediglich eine Empfehlung, aber kein Muss. Spezielle Unterkünfte für LGBTQ+ Geflüchtete, die einen Safer Space bieten könnten, gibt es in Deutschland kaum. Es liegt somit vor allem bei Deutschland und der EU, Gesetze einzuführen, die den Schutz queerer Geflüchteter gewährleisten.

Problem Nummer 3: Der Familiennachzug

Um vom allgemein geltenden Recht auf Familiennachzug Gebrauch zu machen, benötigen Geflüchtete in der Regel eine Heiratsurkunde. Das bringt die allermeisten queeren Geflüchteten in eine Sackgasse. Sie können ihre Partner*innen nicht zu sich in die EU holen, denn in ihrer Heimat ist die gleichgeschlechtliche Ehe nach wie vor verboten.

Alternative Beweise für eine langjährige stabile Beziehung, wie beispielsweise Chatverläufe und gemeinsame Fotos finden laut Ahmed keine Anerkennung.

Außerdem erfahren queere Paare, die nach Deutschland kommen und unverheiratet sind, systematische Diskriminierung auf einer weiteren Ebene. Im Asylverfahren werden sie als Einzelpersonen eingestuft und könnten somit jederzeit getrennt werden.

Problem Nummer 4: „Sichere Herkunftsstaaten“

Das EU-Parlament hat zugestimmt, dass Geflüchtete, die in der EU ankommen, in sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“ abgeschoben werden können. Auf der deutschen Liste befinden sich auch Senegal und Ghana, zwei Länder, in denen Homosexualität unter teils mehrjähriger Haftstrafe steht. Zudem kommt bereits seit Jahren in der deutschen Politik immer wieder die Forderung auf, zahlreiche weitere Länder wie zum Beispiel Marokko, Tunesien und Algerien in die Reihe „sicherer Herkunftsstaaten“ mitaufzunehmen. Für die Sicherheit von queeren Geflüchteten wäre dies ein weiterer fataler Rückschritt.

Zu uns nach Deutschland kommen neben Geflüchteten auch Menschen aus der LGBTQ+ Community mit anderen Migrationsgeschichten. Zu diesen zählt auch Shamil. Er wuchs in Pakistan in einem sehr religiösen Umfeld auf, und schon bald stand für ihn fest, dass er dort als queerer Mensch nicht so frei leben kann, wie es er tun möchte. Deshalb hat er sich einen Job bei einer pakistanischen Firma gesucht, bei dem er viel reisen musste. Er verbrachte in diesem Kontext ein Jahr in Portugal, wo er merkte, wie viel wohler er sich in Europa und zum jetzigen Zeitpunkt konkret auch in Deutschland fühlt. Gleichzeitig räumt er ein, auch Schuldgefühle zu haben, weil viele andere ihre Heimat gerne für ein freieres Leben verlassen würden, aber nicht das Privileg haben, dies zu tun und als queere Person beispielsweise in Deutschland leben zu können.

Die Europawahl am 09. Juni 2024 bietet uns als Wähler*innen die Möglichkeit, über die Neuzusammensetzung des EU-Parlaments zu entscheiden. Diese sollten wir nutzen. Denn welche Parteien aus der Wahl als Gewinner herausgehen, hat enormen Einfluss auf das Leben, die Sicherheit und die Rechte queerer Menschen. Nicht nur bei uns in Deutschland und in der EU, sondern sogar über ihre Grenzen hinaus.

von Ari

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