Disko – Wer darf rein in die Festung Europa?
11.05.2019
Jeden Abend das gleiche. Jeden Abend die gleiche Geschichte krieg ich zu hören. "Meine Freundin ist schon drin". "Ich bin der König der Finnen". Also ich erklärs noch mal. Meine Antwort steht. Kannst du sie nicht kapieren, dann lern lieber Lesen. Du musst Mitglied sein. Bist du zu jung oder zu alt, hässlich, männlich, ärmlich, stehst du nicht auf der Liste, heißt das: Verpiss dich!
Wer darf rein, wer muss draußen bleiben – die Alles-oder-Nichts-Frage, die für jeden Partywütigen am Beginn eines Abends am drängendsten und existenziellsten scheint. Und diese Entscheidungsgewalt, die darüber richtet, ob der Partyabend gut beginnen kann oder schon davor kläglich zerschellt, liegt einzig und allein in den Händen des Türstehers, einem alten weißen Mann im weißen Anzug. In diese Disko kommt nicht jeder rein. Manche Menschen lässt er problemlos passieren, andere müssen draußen bleiben. Und egal, wie sehr sie sich anstrengen, abstrampeln – es liegt nicht in ihren Händen. Drinnen dagegen wird sich fleißig präsentiert, getrunken, geflirtet, abgewiesen und neue Flirtversuche gestartet. Die Partygäste stoßen dann zu den Abgewiesenen draußen, überrumpeln gemeinsam den Türsteher und lassen die Fremden nach und nach testweise ein. Erst einmal einer, der von der Partygesellschaft streng beobachtet und auf Tauglichkeit geprüft wird. Denn eines ist klar: Benimmt sich einer der Neuen daneben, muss die ganze Gruppe raus.
Disko heißt das Theaterstück, das Autor und Hörspielregisseur Wolfram Höll als Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig geschrieben hat. Disko ist nicht nur der Name des Stücks, sondern auch die Spielstätte des Schauspiel Leipzig, an dem Hölls Text am 9. Februar zur Uraufführung gebracht wurde. Regie führte dabei der bulgarische Theatermacher Ivan Panteleev. Nun wurde Wolfram Höll mit seinem Stück für den Mülheimer Dramatikerpreis 2019 nominiert. Sein Text, in jener Uraufführungsfassung des Schauspiel Leipzig, ist daher am 14. und 15. Mai bei den Mülheimer Theatertage NRW im Studio zu sehen gewesen.
Es geht in Hölls Stück nicht um den Einlass in irgendeine x-beliebige Disko, sondern um die Aufnahme in die Festung Europa. Die Fremden, die vom Türsteher abgewiesenen Menschen, stellen dabei die Geflüchteten dar, die vor allem 2015 zahlreich auf die Grenzen Europas gestoßen sind. Der Türsteher, natürlich ein alter weißer Mann, entscheidet allein, wer rein darf und wer nicht. Problemlos passieren dürfen natürlich die Partygäste, die Teil der weißen, deutschen Mehrheitsgesellschaft sind (Wobei: Was heißt schon Deutschsein in den Augen des alten weißen Mannes?). So treffen der besorgte Bürger, ein Single und eine Helferin auf die Geflüchteten mit den Namen 1. Flüchtling, Momo und Frau. Ablehnung, Begehren, Vorurteile und Beobachten – Die unterschiedlichen Begegnungsweisen mit dem Fremden werden zelebriert. Die gesellschaftlichen Debatten tanzen auf und ab in dieser einen Diskonacht, die getragen wird von einem durchdringenden Beat der House-Music. Dance on!
In Ivan Panteleevs Inszenierung blickt das Publikum auf zwei voneinander getrennte Bereiche: Den Bereich vor der Disko und den Innenraum der Disko. Vor der Disko stehen drei abgenutzte, festgesetzte Fahrräder. Die Disko selbst umrahmt eine weiße Fassade mit einer Eingangstür rechts. Die riesige Fensterfront, die ohne Glas auskommt und komplett offen ist, wird zu Beginn bedeckt durch einen riesigen Vorhang, der hoch und runter gefahren werden kann. In der Disko stehen drei Laufbänder, ausgestattet mit Trinkflaschen und Handtüchern. Dahinter leuchtet ein glitzernder Vorhang. Die sieben Schauspieler*innen unterscheiden sich in ihren Outfits ihrer Gruppenzugehörigkeit entsprechend: Der Türsteher in einem weißen Anzug und einem schwarzen Hemd darunter. Die Partygäste, die Teil der Mehrheitsgesellschaft sind, in sportlichen Ganzkörperanzügen mit Sneakers, Schweißband an der Stirn und Mütze. Die Geflüchteten aufgebrezelt in glitzernd, schillernder Partykleidung, mit Sonnenbrille, Lederjacke und stylischen Perücken. Das Kostümkonzept folgt einem einleuchtenden Gedanken: Wer in der Disko zuhause ist, der brauch sich nicht extra aufbrezeln, sondern kommt direkt in entsprechender Kleidung von der Arbeit. Wer allerdings nicht zu den Disko-Mitgliedern gehört und unbedingt rein will, der putzt sich besonders heraus und wirft sich in Schale. Die Stimme des Türstehers ist durch einen Soundeffekt verzerrt. Er sitzt, bewachend wie ein Hund, auf einem Hocker im Eingangsbereich und stützt seine Hände auf ein Klappbrett.
Das Besondere an Hölls Text ist vor allem dessen Form: Es liest sich nämlich wie eine Partitur. Der Text ist in neun Spalten in einer Tabelle angeordnet. Dazu auch solche House-Sounds wie "Bums", "Bam", "Tschick", "Dada". Der Inszenierung liegt dafür ein Takt, besser ein Beat drunter, auf den die Schauspieler*innen ihren Text rhythmisch sprechen. Durchbrochen wird das Konzept, wenn vereinzelte Passagen ohne den Beat "normal" gesprochen werden können. Ansonsten läuft das System stringent durch. So setzt sich der Gesamtklang, vergleichbar mit einem Orchester, durch die einzelnen Stimmen und Texte zusammen. Verbindet sich der Text mit den House-Sounds entstehen solche Ausrufe wie "Abschiebäm -bäm -bäm". Es ist ein einzigartiges Kunstwerk, das Höll dadurch geschaffen hat. Dem Text liegen außerdem eingedeutschte Zitate aus Popklassikern unter, wie z.B. Can't Get You Out Of My Head von Kylie Minogues oder Harder, Better, Stronger, Faster von Daft Punk. Die Auswahl sei kein Zufall, verrät Dramatiker Wolfram Höll dann im Nachgespräch. Sein Stück habe aus verschiedenen Gründen einen starken 90er-Jahre Bezug: Zum einen weil in den 90er-Jahren die neue Spielstätte Diskothek des Schauspiel Leipzig tatsächlich eine betriebene Disko war, zum anderen weil die politischen Diskussionen, die heute geführt werden, aus seiner Sicht dieselben sind, die schon in den 90er-Jahren geführt worden sind und die doch scheinbar längst überwunden waren.
Der Theaterabend fordert eine hohe Aufmerksamkeit von Seiten des Publikums ein. Gerade zu Beginn ist der Text akustisch nur schwer verständlich. Doch wer dran bleibt, wird mit einem berauschten Theatererlebnis heimgeschickt, von dem der Beat noch lange nachhallt und in den Knochen sitzt. Großartige Leistung des Ensembles, das eine hohe Präzision, Ausdauer und Konzentration mit dieser Performance bewiesen hat. Und auch die Einzigartigkeit des Textes ist schier beeindruckend und rechtfertigt allemal Hölls Nominierung für den Mülheimer Dramatikerpreis 2019. Lights out, music out, applause on!
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