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Hymne an die Liebe – Ein Stimmengewitter zwischen Hate Speech und Volksliedern

02.06.2019

Eine Frau im Zuschauerraum erhebt sich. Bis auf den letzten Platz scheint der Theatersaal gefüllt zu sein, nur die Plätze neben ihr sind leer geblieben. Die Blicke einiger Zuschauer*innen richten sich auf sie. Sie krempelt die Ärmel hoch, rückt ihre Brille zurecht, hebt ihre Unterarme auf Spannung und entfacht mit nur einer gezielt gesetzten Handbewegung die majestätische Stimme des Bühnenchors. Es ist jener Moment des Abends, an dem der Blick des Zuschauers ein letztes Mal auf die fortan unauffällig dirigierende Frau abschweift. Denn nun verfangen sich die Augen im Geschehen auf dem hölzernen Bühnenkonstrukt und wollen bis zum letzten Bild des Abends nicht mehr davon loskommen.

Hymne an die Liebe heißt die Performance, die als gewaltiges Stimmengewitter zwischen Hate Speech und traditionellen Volksliedern daherkommt. Das menschliche Orchester wird dabei von der polnischen Regisseurin Marta Górnicka als Dirigentin angeführt. In der Performance verarbeitet sie die starken nationalistischen Tendenzen, die derzeit nicht nur Polen, sondern ganz Europa vor die Zerreißprobe stellen. Im Mittelpunkt steht dabei ein 25-köpfiger Chor, der aus polnischen Staatsbürgern besteht. Darunter Menschen jeden Alters, Große und Kleine, Männer wie Frauen, Menschen unterschiedlicher Hautfarben, mit und ohne Behinderung – kurzum: eine große diverse Gruppe, die durch ihre Stimmen und kleine Schauspielsequenzen den Raum vollständig einnimmt und ein Wegschauen prinzipiell unmöglich macht. Gemeinsam stehen sie auf einer hölzernen Rampe, deren Steigung nach hinten zunimmt. Eine hohe steinern gefleckte Mauer dient im hinteren Bühnenraum als Rückwand. Um diese Rampe herum stehen zahlreiche Mikrofone, die die einzelnen Stimmen zu einem gewaltigen Gesamtklang filtern.

Der Schein der diversen, bunten und freundlichen Menschen, die da zu Beginn auf die Bühne stapfen, ist trügerisch. Denn mit der ersten Formation verschmelzen die Individuen zu einem großen, bedrohlichen Körper, der mit seiner kraftvollen Stimme den gesamten Theatersaal zum Beben bringen kann. Er singt und skandiert, flüstert und schreit, zitiert und demonstriert. Wie eine römische Armee marschiert die Gruppe und nimmt immer wieder neue Formationen ein, lässt Einzelne hervortreten und gleich wieder in der Masse verschwinden. Und die Angriffe sind scharf: Patriotische Volkslieder werden angestimmt, Politiker rezitiert, Hate-Speech-Kommentare aus dem Netz vorgetragen. Dabei formt sich der Hass beinahe dem Formen einer Schneekugel gleich, wird größer und größer und rollt dann über die Zuschauertribüne hinweg, macht alles platt, was darunter ist. Dabei bekommen die Worte des norwegischen Massenmörders Anders Breivik genauso ein Gesicht wie die berühmte Merkelraute. Die gesellschaftlichen Probleme, die sich aktuell durch ganz Europa ziehen, Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus, werden hemmungslos aufgezeigt, reproduziert und bekommen durch die Geschlossenheit der Gruppe eine wahnsinnige Aggressivität, die einen sprachlos macht. Was geht nur in der polnischen Gesellschaft vor sich, mag sich einer fragen, der die Zeichen der Zeit in Deutschland noch nicht erkannt hat.

Marta Górnicka hat es zweifelsohne geschafft, mit ihren 25 Darstellerinnen und Darstellern, die aus Profis wie Laien bestehen, eine gnadenlos fehlerfreie Synchronität einzuüben, die beeindruckt. Sie zeichnet das Bild einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, das Besorgnis erregend ist. Die Performance endet nach rund einer Stunde mit einem auf deutsch gesungenen Lied der Matthäus Passion von Johann Sebastian Bach. Was bleibt ist die Erkenntnis, wie gefährlich eine Gruppe mit rechtsextremen Ideologien ist und wie schnell sie bedrohlicher werden kann, wenn mehrere Personen hinzukommen. Und das gilt es zu verhindern, die Grenzen zu überwinden und die Gesellschaft wieder zusammenzuführen. So heißt es dann auch gegen Ende des Abends: "Lasst uns das stoppen!"

von Marvin

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